Die Herde lebte nach einem klaren, eisernen Prinzip: Gemeinschaft bedeutet Stärke, und Stärke sichert das Überleben. Wer die Gemeinschaft verließ, riskierte alles – und verlor das Recht auf ihre Hilfe. So war es schon immer gewesen. Die Schafe waren stolz auf ihre Ordnung. Jedes wusste seinen Platz, und niemand widersprach dem Gesetz der Herde.
Doch eines Tages fehlte Flauschi, das jüngste und neugierigste Schaf. Es hatte sich ablenken lassen, wie so oft, und war von der Gruppe abgekommen. Als die anderen es bemerkten, brach sofort eine hitzige Diskussion aus.
„Wieder mal Flauschi! Dieses Schaf denkt nur an sich und sein Vergnügen“, schnaubte Bruno, der Anführer. „Es hätte wissen müssen, dass man die Gemeinschaft nicht verlassen darf. Wer so dumm ist, verdient es, allein zu sein.“
„Warum wundert mich das nicht?“ murmelte Greta, eine erfahrene Mutter, die schon viele Lämmer großgezogen hatte. „Wer nicht auf die Herde hört, hat keinen Platz hier.“
Doch bevor die Diskussion weiterging, kam der Hirte herbei, zählte rasch seine Tiere und entdeckte, was bereits klar war. Sein Blick verdunkelte sich, und ohne ein Wort drehte er sich um und begann, den Hang hinaufzugehen, wo er Flauschi zuletzt gesehen hatte.
„Was tut er da?“ rief Bruno empört. „Er lässt uns allein! Was, wenn ein Wolf kommt? Oder ein Unwetter? Alles nur wegen eines einzigen Schafes, das nicht einmal in der Lage war, den einfachsten Regeln zu folgen?“
„Und was ist mit uns?“ fragte Greta mit einer Mischung aus Sorge und Ärger. „Wenn der Hirte jetzt tatsächlich geht, um es zu suchen, wer passt dann auf uns auf? Wer schützt uns, wenn Gefahr droht?“
„Der Hirte ist zu weich“, fügte ein junges Schaf hinzu, das sich eifrig an den Älteren orientierte. „Er riskiert alles für einen einzigen Versager. Das ist nicht gerecht.“
Die Herde war sich schnell einig: Der Hirte sollte sich um die Gruppe kümmern, nicht um Einzelne. „Wenn man viel zu sehr an die Schwachen denkt und an die, die Fehler machen, dann bricht das System zusammen“, sagte Bruno. „Der Hirte sollte das wissen.“
Doch der Hirte, der die Unruhe bemerkt hatte, ließ sich nicht beirren. Ohne zu zögern ging er weiter in die Richtung, in der Flauschi zuletzt gesehen worden war. Die Herde war fassungslos.
„Naiv und verantwortungslos!“, rief Bruno immer wieder und stampfte mit den Hufen. „Er riskiert alles, um ein Schaf zu retten, das selbst schuld an seiner Lage ist. Die Natur ist hart, und wer nicht stark genug ist, verdient es, unterzugehen.“
Die Schafe blieben zurück, unsicher und gereizt. Ohne den Hirten fühlten sie sich verwundbar. Doch sie beruhigten sich gegenseitig: Wir haben die Mehrheit. Wir haben die Ordnung. Wir sind sicher.
Stunden vergingen, die Nacht brach herein, und mit ihr kamen die Zweifel. Jedes Schaf dachte insgeheim an die Worte, die Bruno gesagt hatte, aber auch an die Zähigkeit des Hirten. „Was, wenn er nicht zurückkommt?“ murmelte Greta schließlich.
Plötzlich hörten sie Schritte und das leise Rufen des Hirten. Als er aus dem Schatten trat, blieb der Atem der Herde kurz stehen. Der Hirte sah erschöpft aus, seine Kleidung war zerrissen, seine Hände bluteten von Dornen, die er durchquert hatte. Doch auf seinen Schultern trug er Flauschi, zerzaust, aber lebendig.
„Das… das ist Wahnsinn“, stammelte Bruno, doch seine Stimme klang nicht mehr so sicher wie zuvor.
Der Hirte legte Flauschi behutsam ab und wandte sich an die Herde. Sein Blick war ruhig, aber durchdringend. „Ihr glaubt, ich hätte euch im Stich gelassen“, begann er. „Doch begreift dies: Jedes von euch ist mir gleich wertvoll. Flauschi mag sich verirrt haben, doch es gehört zu meiner Herde, genauso wie ihr. Und wenn einer von euch verloren geht, lasse ich die anderen zurück, um ihn zu suchen – denn niemand ist weniger wichtig als die Gruppe. Die Herde lebt nicht von ihrer Stärke, sondern von ihrer Liebe.“
Die Schafe wurden still. Bruno wollte widersprechen, doch etwas an den Worten des Hirten ließ ihn schweigen. Greta scharrte mit den Hufen, doch statt einer scharfen Bemerkung sagte sie leise: „Aber was, wenn wir alle verloren gehen? Würdest du immer wieder suchen?“
„Ja“, sagte der Hirte fest. „Weil ihr alle mir anvertraut seid. Nicht, weil ihr perfekt seid oder stark, sondern weil ich euch liebe.“
In dieser Nacht legten sich die Schafe schweigend nieder. Die Worte des Hirten hallten in ihren Köpfen wider. Sie hatten so viel Wert auf Stärke und Regeln gelegt, dass sie übersehen hatten, dass Liebe und Hingabe eine größere Stärke für ihre Gemeinschaft waren.
Diese Geschichte kennen wir sehr gut und meinen sie auch verstanden zu haben. Lasst uns mal das Wissen darüber abgleichen, ob nicht doch noch ein neuer Impuls drin steckt.
Ich möchte auf drei wesentliche Aspekte dieser Geschichte hinweisen:
- Die Natur Gottes: Liebe, die sucht
Die Hauptfigur in der Geschichte, der Hirte, ist ein Symbol für Gott selbst. Gottes Liebe ist aktiv, suchend und persönlich. Anders als die menschliche Neigung, den Wert einer Person an Bedingungen wie Eigenschaft, Nützlichkeit oder Zugehörigkeit zu knüpfen, betont die Geschichte, dass Gottes Liebe bedingungslos ist.
Timothy Keller (ev.Theologe) beschreibt diesen Gedanken als „die ausschließliche Freude Gottes über die Rückkehr des Verlorenen“. Der Hirte repräsentiert die unermüdliche Suche Gottes nach jedem Einzelnen, unabhängig von seinem Status oder seinen Entscheidungen.
Die Handlungen des Hirten sind risikoreich und selbstlos. Er lässt die 99 zurück, um das eine verlorene Schaf zu finden, was menschlich betrachtet unvernünftig erscheinen mag. Dies unterstreicht, dass Gottes Logik der Liebe oft den menschlichen Kategorien von Effizienz und Gerechtigkeit widerspricht. Und es zeigt uns, dass es denen entgegensteht, die Menschenleben rücksichtslos als Instrument einsetzen, um ihre Ziele zu erreichen oder persönlichen psychischen Defizite zu kompensieren. Der Wert des einzelnen Menschen kommt aus der christlichen Ethik. Das ist einmal schön, weil sich jeder irgendwann mal in einer Situation des verlorenen Schafs sein wird oder gewesen ist. Andererseits macht es alles komplizierter, wenn man aus dieser Überlegung heraus weiterdenkt und versucht auf Einzelne oder Minderheiten rücksicht zu nehmen. - Gemeinschaft und Verantwortung
In dieser Geschichte wird die Frage impliziert: Wie verhält sich die Gemeinschaft zu den Verlorenen?
Die zurückgelassenen Schafe könnten die Perspektive vieler religiöser, ideologischer oder sozialer Gruppen repräsentieren, die ein starkes Wir-Gefühl pflegen (möchten), aber oft wenig Geduld mit „den Anderen“ haben. Viele bedeutende Theologen des 20.Jahrhundert, darunter Dietrich Bonhoeffer, betonen, dass wahre Gemeinschaft nicht durch Ausschluss, sondern durch Solidarität mit den Schwachen und dessen Integration entsteht. Eine Integration durch die Gemeinschaft und nicht umgekehrt. Um das verlorene Schaf sammelt sich die Herde und nimmt es in sich auf und wird Teil der Gemeinschaft. Bevor noch das Verlorene verloren geht, kümmert sich die Gemeinschaft darum, damit es möglichst gar nicht erst soweit kommt. Und wenn es geschieht, dann erfordert es Opferbereitschaft, um den Verlorenen zu helfen.
Das ist keine neue Erkenntnis, aber sie ist verloren gegangen, weil man eine Umkehr von Ursache und Wirkung gemacht hat. Etliche Probleme z.B. durch Subkulturen in unserer Gesellschaft kommen daher, weil kaum in echte Integration investiert wurde und man davon ausgegangen ist, dass Integration schon irgendwie von allein gehen wird. Diese Unterlassung schlägt wie ein Bumerang zurück und verursacht Folgekosten in Form von multiplen sozialen Störungen.
Der Hirte lehrt uns, dass echte Gemeinschaft nicht nur auf die Mehrheit, sondern auch auf das einzelne Glied angewiesen ist, da die Mehrheit sonst in eine harmonische Schieflage gerät. - Die verlorenen Menschen: Schuld und Gnade
Das verlorene Schaf steht für jene, die sich aus verschiedenen Gründen von Gott oder der Gemeinschaft oder der Familie entfernt haben. Der Theologe und Ausleger Nicholas Thomas Wright sieht in dem verlorenen Schaf oft das Volk Israel oder die „Sünder“ in Jesu Zeit – Menschen, die damals als außerhalb der göttlichen Gnade betrachtet wurden. Doch Jesus stellt klar: Niemand ist zu weit entfernt, um zurückgebracht zu werden. Die Suche nach dem Schaf zeigt, dass Gnade kein passiver Akt ist. Sie erfordert Einsatz, Hingabe und eine Bereitschaft, den Verlorenen ohne Vorwurf wieder aufzunehmen. Aufnehmen bedeutet, dass dem Verlorenen auch die Kultur und Werte der Gemeinschaft beigebracht wird. Das wäre zu einem wichtigen Teil also auch eine „Bringschuld“.
Was sagt uns nun diese Geschichte für die heutige Zeit?
In einer Welt, die oft von Leistungsdenken und schnellen Urteilen geprägt ist, erinnert uns diese Geschichte daran, dass jedes Leben wertvoll ist, unabhängig von Fehlern oder Schwächen.
Die radikale Liebe des Hirten fordert uns heraus, unsere Gemeinschaftsstrukturen zu überdenken: Ist unsere Kirche, unsere Gesellschaft offen für die Verlorenen, die Anderen, die Unangepassten? Nicht nur als Lippenbekenntnis, sondern wie es am Beispiel des barmherzigen Samariters erklärt wird, was tätig Liebe bedeuten kann?
Der Hirte geht ein Risiko ein, um das eine Schaf zu retten. Dies ist ein Bild für die Liebe Jesu, der selbst sein Leben hingab, um die Menschheit zu erlösen. Jesus ging für jede Person einzeln in die Dornen der Schuld, des Leidens und der Verachtung, um uns zu retten. Dich und mich. Jenen, der sich für was Besseres hält und jenen, den man den Wert abspricht. Seine zerschundenen Hände und seine Wunden sind der Beweis seiner Liebe, die jeden Menschen erreicht, egal, wie weit wir uns verirrt haben. Für ihn ist kein Mensch unwichtig, keine Seele verloren – denn seine Liebe steht über jedes Gesetz unserer Natur. Der Theologe John Stott beschreibt diese Geschichte als „eine Einladung in die Arme des Retters“. Sie ist eine Botschaft an alle, die sich verloren fühlen, dass sie nicht allein sind und dass Jesus sie unermüdlich sucht.
Für die Kirchen(gemeinden) bedeutet dies, dass ihre Mission nicht nur die Bewahrung und Pflege der Gemeinschaft, sondern auch die aktive Suche nach den Verlorenen ist. Dies erfordert Mut zur Aktivität, Hingabe und manchmal auch die Bereitschaft, Risiken einzugehen.
Es grüßt Sie
Munir Hanna
für das Evangeliumsnetz e.V.
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